projekt: Generationenvertrag / Die Stadt
Die Drei-Generationen Stadt
Der junge Mann am Bahnhof mit der Bierflasche in der Hand, ist der Meinung,
dass wir in Bayern seien und hier Biertrinken etwas ganz Normales
ist. Der redselige Typ hatte wohl schon seinen Sonntagmorgen- Frühschoppen
gehabt und wir kamen im Gespräch von den wüsten Schlägereien auf dem
Oktoberfest, zu den Schlachten des Zweiten Weltkrieges. Und wenn der
Winter nicht gewesen wäre, hätte der Russe uns nicht besiegt. Und
Waldkraiburg hätte es dann auch nicht gegeben, antwortete ich ihm.
Gegründet wurde die jüngste Stadt Deutschlands, im Grünen, vor 50
Jahren in einem Hochwald, auf dem Gelände einer ehemaligen Munitionsfabrik.
Sie ist damit das, was man als eine Drei-Generationenstadt bezeichnen
könnte. Die Großeltern, größtenteils Heimatvertriebene aus den Ostgebieten,
kamen hier mit ihren 50-Kilogramm-Holzkisten an, in denen sich ihr
gesamter Besitz und ihre Erinnerungen an die alte Heimat befanden.
Die Kinder gingen hier zur Schule und die Enkel scheinen sich in der
"Wirtschaftswunderstadt" und mit ihrer Geschichte schwer zu tun.
Eigentlich gibt es noch eine Generation vor den Heimatvertriebenen.
Es sind die Arbeiter und Zwangsarbeiter, die hier in Lagern lebten.
Sie mischten in den Fabrikationsbunkern, die durch den Hochwald getarnt
waren und sich bis fast zu Kriegsende den Blicken der allierten Flugzeuge
entzogen, das Pulver für den Führer an. Untergebracht waren sie in
unterschiedlichen Lagern, sortiert nach ihrer Herkunft und Rangfolge
in der NS-Rassenideologie. Die Ukrainer traf es am schlechtesten.
Sie mussten, im Gegensatz zu u.a. den verbündeten Italienern, die
in einem Steinlager lebten, mit einfachen Holzbaracken vorlieb nehmen,
dem Holzlager. Ausführlich recherchiert ist dies alles in dem Buch
"Waldkraiburg erzählt", das anlässlich der 50-Jahrfeier erschien.
Was die Baracken betraf, so haben sich ihre Bewohner die Klinke in
die Hand gegeben. Die einen waren auf dem Weg in ihre neue Heimat,
nach Israel, in die USA oder zurück in die Ukraine. Die anderen kamen
gerade aus ihrer Heimat im Osten und suchten nach einer neuen. Freiwillig
waren wahrscheinlich die wenigsten zu dieser Zeit hier.
Ich
stelle mir die Stadtgründer vor, wie sie mit ihren Flüchtlingskisten
ankamen und zwischen den Bombentrichtern, den Betonplatten gesprengter
Bunker und den stehen gebliebenen Betriebsgebäuden umherirrten und
ihre Baracken suchten. Dazwischen war das jüdische Kinderlager im
Föhrenwinkel und die als 'displaced persons' von den Amerikanern,
in den umliegenden Gemeinden einquartierten, Insassen des KZ Mettenheim,
einer Außenstelle von Dachau. Es diente als Lager für die Häftlinge,
welche eine Bunkerfabrik für Flugzeuge bauen mussten, die im selben
Wald wie die Munitionsfabrik lag.
In dieser Zeit des fließenden Übergangs, kam es auch zu Kontakten
und Handelsbeziehungen zwischen den Neusiedlern der Munitionsfabrik
und den Menschen, die sich gerade im Aufbruch befanden. Die letzten
jüdischen Häftlinge haben die Region erst 1948 verlassen.
Herr Schmoldt erzählte mir, wie er für seine Frau im neu gegründeten
Kaufhaus Paps in Kraiburg Nylonstrümpfe gekauft hatte. Der ehemalige
KZ-Häfling, alle nannten ihn Paps, hatte in seinem Kaufhaus fast alles.
Sein Sortiment reichte von Zigaretten über Schnaps bis hin zu Anzügen.
Die Handelsbeziehungen des Schusters Schmoldt mit den ehemaligen KZ-Häftlingen
bestanden in den ersten Nachkriegsjahren darin, dass er von ihnen
Leder aus dem Schwarzhandel bezog - der von den Amerikanern bei den
'displaced persons' geduldet wurde - um daraus Schuhe zu machen, die
er ihnen wiederum verkaufte. Auch berichtete er von Plünderungen und
Konfiszierungen durch entlassene Häftlinge. So konnte er sich der
Beschlagnahmung seines Fahrrades durch eine Strassensperre ehemaliger
Häftlinge, nur durch kräftiges in die Pedale treten entziehen. Die
ersten Tage der "New Economie" waren rau.
Ab Anfang der 50ziger schienen sich aber die Zustände zu konsolidieren
und die neuen Betriebe der Flüchtlingsindustrie in den ehemaligen
Bunkern kamen in Schwung.
Fast alle Neubürger von Waldkraiburg waren Flüchtlinge. Sie kamen
aus dem Sudetenland, dem Banat, Pommern, Ostpreussen und anderen,
zum Teil ehemalig deutsch besiedelten Gebieten.
Typisch für diese erste Generation ist die Traditionspflege und Erinnerung
an ihre frühere Heimat.
Einer
Gedenkfeier der Sudetendeutschen für die Toten des 4. März 1919 konnte
ich auf dem Waldfriedhof beiwohnen. Eine Gruppe älterer Herren, der
jüngste schien nicht unter 65 Jahre zu sein, standen im Halbkreis
vor einer Bronzetafel, mit davor niedergelegten Kränzen und Blumen.
Mitgebracht hatten sie für die Feierlichkeit, ihre in Plastikfolie
eingepackten Fahnen und Standarten, denn es nieselte die ganze Zeit.
Der Regen knisterte in den zwei Metallschalen mit den brennenden Fackeln.
Bewacht wurde das Feuer von zwei stahlbehelmten Bundeswehrsoldaten.
Inmitten der Schar stand der Bürgermeister, behängt mit seiner Amtskette,
deren Wappen die unterschiedlichen Städte symbolisiert, aus denen
die Waldkraiburger kamen. Was mich aber erstaunte war, dass sich die
Ereignisse des 4. März, auf den sich die Feierlichkeiten beziehen,
im Jahre 1919 zutrugen. Ein neben mir stehender Journalist klärte
mich darüber auf, dass die Toten des 4. März Opfer eines Aufstandes
der Sudetendeutschen waren, der von tschechischer Seite mit Gewehrsalven
beantwortet wurde. Vielleicht ist der große geschichtliche Abstand
zu dem Datum des "sudetendeutschen Nationalfeiertags" und die Tatsache,
dass die nächste Generation hier geboren wurde und zur Schule ging
für die Nachwuchssorgen der meisten Landsmannschaften verantwortlich.
Frau Pischel, die sich für die Adlergebirgsstuben engagiert, bedauerte
sehr das fehlende Interesse ihrer zwei Kinder. Nur die Schwiegertochter
ist mit eingestiegen. Sie meinte, die Jugend sei gleichgültig gegenüber
dem Schicksal der vertriebenen Elterngeneration. Auf meine Frage,
warum eigentlich so wenig im Stadtbild an die Herkunft ihrer Bewohner
erinnert, erzählt sie, dass ihr Mann früher oft mit dem ersten Bürgermeister
von Waldkraiburg, Rösler, darüber gesprochen habe. Es gab Pläne, an
verschiedenen Ecken der Stadt Häuser in der landestypischen Architektur
der einzelnen Regionen zu bauen, aus denen die Bürger stammten. Leider
ist dieser "Röslerplan" aber im Sande verlaufen. Schade, denke ich.
Die Erinnerungen aber an die alte Heimat liegen, wenn sie nicht im
Haus der Kultur ausgestellt sind, im atomsicheren Keller des Hauses.
Hinter der Stahltür und den blauen Duschvorhängen des Schutzraumes
stehen, in Regalen archiviert, die Souvenirs der versunkenen Landschaften:
Böhmische Überwurfgläser, Ölbilder, Weihnachtskrippen und Regale mit
Büchern. In einer Ecke steht eine jener legendären Flüchtlingskisten
aus Holz.
Auch die zweite Generation der hier Geborenen hatte Schwierigkeiten
sich zu assimilieren. Bis vor 4 Jahren mussten alle Gymnasiasten aus
Waldkraiburg zur Oberstufe nach Mühldorf fahren. Das Realgymnasium
reichte nur bis zur 10 Klasse. Die Mühldorfer Gymnasiasten wussten
bei ihrer Versetzung genau: Jetzt kommen die Waldkraiburger. Viel
miteinander zu tun hatte man damals nicht gehabt, wie ich von mehreren
Seiten hörte. Ein Vater aus Mühldorf warnte seine Tochter, wie sie
mir erzählte: "Du kannst überall hin gehen, aber vor dem Schild Waldkraiburg
drehst du um." Als Einheimischer ging man in den 70 ziger Jahren nicht
nach Waldkraiburg. Berüchtigt waren die "Krawallburger", wie man sie
abfällig bezeichnete, wegen ihrer hohen Kriminalstatistik, zu erkennen
waren sie an ihrem Slang, dem 'Vertriebenenbayrisch'. Heute ist aber
alles ganz anders, wurde mir versichert. Die Mühldorferer kommen jetzt
auch schon mal zum Einkaufen hierher.
Die Integrationsprobleme der Enkel scheinen schon wieder ganz andere
zu sein, denn jetzt müssen sich die Aussiedler, meist aus Russland,
nach der Öffnung des Ostblocks in Waldkraiburg zurecht finden.
Ein Stadtgründer beschwerte sich mir gegenüber darüber, dass es das
früher nicht gegeben hätte - erst nach Öffnung der Mauer sei das so.
Die sitzen auf den Lehnen der öffentlichen Bänke, mit den Schuhen
auf den Sitzflächen und trinken Wodka. Danach findet man die Flaschen
in den Grünflächen, um die sich die Stadt so vorbildlich kümmert.
Blumen und Beete werden mutwillig kaputt getreten.
Im Haus der Jugend kennt man das Problem. Hier treffen Jugendliche
unterschiedlicher Nationalitäten aufeinander. Die Russen haben sich
eine Teestube eingerichtet, die Mädchen ein Mädchenzimmer. Eine Jugendarbeiterin
bezeichnet dies als Randgruppenarbeit. Man habe zwar einen schlechten
Ruf, aber es gibt kaum Schlägereien. Sie zeigt uns eine Stadtkarte,
auf der jeder Jugendliche mit einer Stecknadel bezeichnen kann, wo
er in der Stadt wohnt. Rote Stecknadelköpfe für die Türken, lila für
die Deutschen und blaue für die "Russen". Ein Blick genügt um zu sehen,
dass sich die blauen Stecknadeln in Waldkraiburg-Süd konzentrieren,
während Lila und Rot sich über das ganze Stadtgebiet verteilen. Ja,
sagt sie, ein Streetworker in diesem Stadtteil wäre schon wünschenswert.
Viele der dort lebenden Jugendlichen seien Schlüsselkinder, sprechen
oft schlecht deutsch und seien ab 16/17 nicht mehr in der Schule,
weil nicht mehr schulpflichtig.
Ein Mädchen, mit dem ich mich im Foyer des Hauses der Jugend unterhalte,
bringt es auf einen Nenner. Wenn sie 18 ist, will sie nach München
- aber das dauert noch. Denn hier ist nicht viel los, für Jugendliche
zumindest. Das Haus der Jugend ist der einzige Ort, wo man sich treffen
kann. Der Kleidereinkauf ist für das Mädchen ein Problem. Die gleiche
Madonnahose kostet in Waldkrailburg 165 Mark, während sie die Markenhose
in München für 75 Mark gesehen hat. Das Mädchen ist sympathisch und
ich erinnere mich, dass ich früher auch manchmal das selbe Gefühl
hatte, dass nichts los sei. Dann fügt sie noch hinzu: Ja, die Alten
fühlen sich hier wohl.
Die Anzahl der Alten steigt ständig, geht mir durch den Kopf, und
wie sie hier mitten im Wald leben, alleine mit ihren Erinnerungen
an den Wiederaufbau und die Geschichte ihrer Vertreibung...