Hier sieht man ja oft noch Häuser die ursprünglich Bunker waren. Wie kam es dazu?
Erst gab es nur die beiden Musterhäuser. Die Amerikaner wollten ja ursprünglich das ganze Gelände sprengen, so wie das die Russen mit den von ihnen eingenommenen Pulverfabriken getan haben. Die Heimatvertriebenen, die hier waren haben, sich dann dafür eingesetzt, dass man ihnen nicht das Dach über dem Kopf wegsprengt, denn die haben ja schließlich in diesen Bunkern gelebt. Und dann hat man Kompromisse geschlossen. Gewisse Gebäude müssen gesprengt werden, weil sie unterirdisch sind, oder weil sie nur für diese Pulver-Herstellungszwecke gebraucht werden können. Das hat man dann auch getan. Andere Bunker hat man eben nicht gesprengt. Und damit diese Idee, die Bunker weiter zu nutzen, auch wirklich bei den Amerikanern ankommt, hat man zwei Bunker ausgewählt, die man zu Musterhäusern ausgebaut hat. Man wollte den Amerikanern zeigen,dass man mit möglichst wenig Aufwand aus einem Pulverbunker ein Wohnhaus mit Werkstatt machen kann. Man hat also hier den Bunker mit einem Holzhaus aufgestockt, und in dem früheren Bunker, unten, war die Werkstatt, während oben drauf das Wohnhaus war. 1947 waren zwei Musterhäuser fertiggestellt. Die wurden den Amerikanern dann gezeigt, woraufhin die Umnutzung der Bunker erlaubt wurde. Es gab dann aber doch noch Schwierigkeiten im Frühjahr 1948. Da gab es einen umfassenden Enttarnungsbefehl. Das hieß innerhalb von wenigen Wochen alle Bunker zu enttarnen und den umgebenden Wald abzuholzen. Wenn das bis zu einer gewissen Frist nicht erfolgte, wurde der Bunker gesprengt.
Wieviele Menschen kamen denn anfänglich nach Waldkraiburg?
Es waren bei der Gemeindegründung 1950 etwa 2000 Personen. Die ersten Transporte sind mit ein paar hundert Personen gekommen. Das Holzlager war dann ziemlich überbelegt, da waren dann bis zu 1500 Leute im Lager. Die waren da eingepferscht. Bis zu vier Familien in einem Barackenteil. Das müssen sehr schlimme Zustände gewesen sein. Die Gemeinde Waldkraiburg ist am 1. April 1950 gegründet worden mit genau 1912 Einwohnern. 1960, also genau 10 Jahre später, hatte man bereits über 8000 Einwohner. Dann wurde Waldkraiburg zur Stadt erhoben. Bereits 1963 hatte man Mühldorf, die Kreisstadt, die über 1000 Jahre alt ist, mit der Einwohnerzahl überflügelt. Anfang der 90ziger Jahre waren es dann schon 25000 Einwohner. Das war also eine wahnsinnig schnelle Entwicklung.
Die Industrie in Waldkraiburg hat sich ebenso schnell entwickelt. Wir haben hier ein sehr bunt gemischtes Spektrum an Industrie. Ganz typische Industriezweige aus dem Sudetenland wie z.B. Krippenherstellung; Blechblasinstrumente werden von der Firma Mirafone hergestellt, die marktführend ist auf diesem Gebiet. Vor allem der Export in die USA ist für die sehr wichtig. Die Bekleidungsindustrie war früher stärker vertreten, heute spürt man da den Druck der Konkurrenz, so dass dieser Industriezweig heute nicht mehr sehr bedeutsam ist. Bis in die 70iger Jahre ist die Glasindustrie aus dem böhmischen Traditionsbereich sehr stark gewesen. Wir hatten hier eine Glashütte, die gut 300 Mitarbeiter beschäftigte, aber dieser Industriezweig ist mittlerweile so gut wie ausgestorben. Was von Anfang an auch schon da war: chemische Industrie, Gummiverarbeitung, Feingerätemechanik und technische Keramik. Es ist also ein ganz buntes Spektrum in Waldkraiburg. Wenn eine Branche wirklich einmal Schwierigkeiten hat, dann ist das für die Arbeitnehmer nicht so gravierend. Als hier Ende der 70iger, Anfang der 80iger Jahre die Glasindustrie einbrach, gab es hier kein Chaos. Die Arbeiter verteilten sich sehr schnell auf andere Bereiche.
Haben in der Entwicklung der Industrie die Familienbetriebe eine besondere Rolle gespielt?
Ja, eines der schönsten Beispiele in diesem Bereich ist das Gummiwerk Kraiburg, da gibt es schon den dritten Fritz Schmidt, der das macht. Der alte Fritz Schmidt ist 1946 hier her gekommen und hat hier die Firma gegründet und Gummi hergestellt. Die Firma war vorher in West-Preußen. Beim Anrücken der Roten Armee hat er sein Material evakuiert. 1946 kam er durch Zufall hierher, hat das Gelände gesehen, hat sich einige Bunker gemietet und hat dann mit ganz primitiven Mitteln hier wieder angefangen. Der Betrieb ist dann an seine beiden Söhne Peter und Fritz Schmidt übergegangen, und dieser Fritz Schmidt, der hat jetzt wieder einen Sohn. Der hat vor zwei, drei Jahren jetzt auch wieder den Betrieb übernommen. Das ist also jetzt die dritte Generation Fritz Schmidt.
Gibt es diese Familientradition hier öfter?
Die Firma Beck ist jetzt auch in der zweiten Generation, die Firma Dickhoff-Pumpen KG ist in der zweiten Generation, die Firma Schwansee ist auch an den Sohn übergegangen. Das sind jetzt die die mir auf Anhieb einfallen. Die Krasslitzer, um das noch zu erwähnen, die Instrumentenmacher, die hatten keinen Firmenchef. Die sind auf genossenschaftlicher Basis entstanden, die verwalten ihre Firma gemeinsam und das schon seit 1946. Die hatten den Vorteil, wenn ich da ein bißchen ausholen darf, die waren genossenschaftlich und sozialdemokratisch ausgerichtet und hatten nach dem Krieg den Vorteil, dass sie ihre Werkzeuge und auch den Haushalt, soweit der eben auf den Güterwagons Platz hatte, mit in den Westen transportieren durften. Das hat man die Antifaschisten-Transporte genannt. Ein geschlossener Transport ist hier 1946 angekommen. Die haben dann hier ihre Genossenschaft sofort wieder neu etabliert und haben dann, soweit es die wirtschaftlichen Bedingungen zuließen, sofort wieder mit der Produktion begonnen. Die sind also bis heute ein Aushängeschild für unsere Stadt. Jetzt fällt mir noch eine andere Firma ein, die auch Familientradition hat, die Firma Lode. Die Firma war ursprünglich ein Speditionsunternehmen in Heider in Nord-Böhmen, haben dann später einen Zweigbetrieb in Prag gehabt und sind dann hier auch 1946 gelandet. Im übrigen war Herr Lode der erste Sudetendeutsche, der im März 1946 Waldkraiburger Gelände betreten hat. Der hat dann - Not macht erfinderisch - eine Knopffabrik hier gegründet. Für seine Spedition bekam er zunächst keine Erlaubnis, so hat er sich denn zunächst auf Knöpfe spezialisiert. Später wurde dann auch die Spedition zugelassen. Beide Betriebe sind dann an die Söhne übergegangen. Die wiederum haben heute auch wieder Kinder, die ebenfalls im Betrieb Verantwortung tragen.
Gibt es denn immer noch einen starken Zuzug nach Waldkraiburg?
Zur Zeit nicht. In den letzten 10 Jahren ist die Einwohnerzahl der Stadt relativ konstant geblieben. Es war auch der Wille die Stadtentwicklung zur Ruhe kommen zu lassen, weil ein ständiges Wachstum ja auch ein Integrationsproblem ist. Wenn am Anfang schon lauter sich fremde Leute da waren, die sich untereinander einigen mussten, miteinander bekannt werden und sich mit der fremden Umgebung vertraut machen mußten, und dann kommen ständig neue Leute dazu, die hier auch Wurzeln schlagen wollen, dann ist das an sich schon ein Problem. Irgendwann hat man dann gesagt, jetzt ist ein gewisses Wachstum erreicht, jetzt muss das etwas langsamer gehen. Es gehen ja auch die Flächen aus. Das frühere Gelände ist ja mittlerweile fast vollständig bebaut. Es gibt da keine Möglichkeiten mehr sich da noch auszuweiten. Von daher wird sich das auch in den nächsten Jahren kaum ändern. Es fehlt einfach die Fläche für neue Baugebiete.
Gibt es viele Pendler in Waldkraiburg?
Ja, es fahren sehr viele Leute zur Arbeit nach Waldkraiburg. Es gibt für die Stadt einen sehr großen Einzugsbereich. Es fahren aber auch sehr viele Waldkraiburger nach außerhalb zur Arbeit, zum Beispiel nach München. Es ist in Waldkraiburg so, dass Arbeitskräftemangel herrscht und trotzdem sehr viele Leute arbeitslos sind. Das kommt daher, weil nach Waldkraiburg sehr viele Menschen kamen, die sehr einfache Ausbildungen haben. Diese Leute sind hier bei den Betrieben nicht sonderlich gefragt. Andererseits bräuchten die Betriebe aber Facharbeiter. Das ist gleichzeitig ein Mangel und ein Überangebot. Das ist eigentlich schon eine etwas prekäre Situation. Die Leute, die ein Problem haben Arbeit zu finden, sind vor allem die Aussiedler aus dem ehemals sowjetischen Machtbereich. Wir haben hier jetzt über 2000 Deutsche aus Rußland, von denen die meisten kaum deutsch sprechen. Die haben natürlich Schwierigkeiten hier Arbeit zu finden. Wenn man keine Ausbildung hat und auch die Sprache nicht versteht, dann tut man sich hier sehr schwer. Die Spätaussiedler sind Ende der 80er Anfang der 90er Jahre gekommen. Das war ziemlich massiv, das ist auch ein Problem der Integration. Vor allem für die jungen Leute ist es zum Teil schwierig, weil die ja aus einem ganz anderen Kulturkreis kommen. Die wurden dort herausgerissen und fühlen sich dann hier in der westdeutschen Kultur am Anfang nicht sehr wohl. Das kann man ja auch verstehen. Andererseits könnte man vielleicht annehmen, dass Waldkraiburger Bürgern aufgrund der eigenen historischen Entwicklung diese Situation, von irgendwo fort zu müssen und an einem neuen Ort von vorne anfangen zu müssen, vertraut ist. Von daher könnte sich ja gerade hier ein gewisses Gefühl um die prekäre Situation von Neuankömmlingen entwickelt haben. Das Gefühl ist auch da, aber die ersten Heimatvertriebenen, die direkt nach dem Krieg hierher gekommen sind, die waren ja mittellos. Die sind ja im wahrsten Sinne des Wortes in Hemd und Hose vertrieben worden. Die haben hier natürlich mit Null angefangen und haben hier auch sehr viel Pionier arbeit geleistet. Die haben hier unheimlich viel geschaffen. Nun kommen in den 70er Jahren Deutsche aus Rumänien und Siebenbürgen, die natürlich eine ganz andere Situation vorgefunden haben. Die wurden nicht in Holzbaracken untergebracht, die mussten nicht zum Hamstern gehen, die wollen nicht irgendwann einen Betrieb gründen, usw. Die bekommen sofort Wohnungen zugewiesen, die bekommen sofort staatliche Hilfen, usw. Das war also eine ganz andere Situation, und da gab es bei den einen oder anderen "Alt-Eingesessenen Waldkraiburgern" schon Neidgefühle. Denen wurde, einmal ganz pauschal ausgedrückt, alles nachgeworfen und sie selbst haben nichts gekriegt. Aber man muss auch die Situation unterscheiden. Das eine war die Nachkriegszeit, und das andere waren die blühenden 70er Jahre, in denen die Wirtschaft boomte. Das sind ja ebenfalls ganz andere Vorraussetzungen. Die Leute, die also aus dem rumänischen oder auch aus dem alt-polnischen Bereich hierher gekommen sind, die sehen sich jetzt schon wieder so integriert, die fühlen sich jetzt schon wieder so stark als Waldkraiburger, dass sie die Neuankömmlinge aus Rußland eher mit neidischen Blicken betrachten. Die sagen jetzt, wir haben zumindest deutsch gekonnt und haben uns ja aufgrund unseres Deutschtums entschlossen nach Deutschland zu gehen, weil dort Gewohnheiten haben um unsere Kultur auszubreiten. Und jetzt wendet sich das wieder und sie sagen: die Deutschen aus Rußland, die ja gar kein Deutsch können, die kriegen alles nachgeworfen. Aber ich denke, diese Problematik sollte man nicht überbewerten. Das ist Stoff für Vorurteile für die einen oder anderen, aber konkret wirkt sich das nicht besonders aus. Wenn man sich überlegt, aus wie vielen Heimatgebieten, aus wie vielen Nationen Waldkraiburg besteht und von Anfang an so gewachsen ist, dann muß man eigentlich sagen, es ist fast ein Wunder, dass nicht schlimmere Dinge passiert sind, dass keine Eskalationen zustande gekommen sind. Waldkraiburg ist ein wunderbares Beispiel für eine gelungene Integration. In fünf oder zehn Jahren wird auch das Problem mit den Rußlanddeutschen wieder vergessen sein, weil die Leute dann auch integriert sind. Die Integration läuft ja auch schon, und es ist nur ein ganz kleiner Kreis, der ab und zu bei der Polizei auffällt.
Gibt es denn noch Kontakte in die Regionen, aus denen die unterschiedlichen Gruppen einmal kamen?
Der Kontakt in die alte Heimat ist mit Sicherheit nur noch bei den Alten vorhanden. Bei denen, die sich an Zuhause noch erinnern können. Bei den Nachgeborenen, die in Waldkraiburg aufgewachsen sind, da ist der Bezug eigentlich gleich Null. Die fahren vielleicht einmal hin und sagen, ach da ist ja das Haus von der Oma, hier hat sie mal gelebt, und dann war's das auch schon. Die Landsmannschaften und die Heimatvereinigungen sind in der Situation, dass da alle überaltert sind. Es gibt nur ganz wenige, die da wirklich aktive Jugendarbeit leisten können. Für den Großteil sieht es so aus, dass die vorraussichtlich innerhalb der nächsten 10 Jahr aussterben werden, weil denen einfach der Nachwuchs fehlt. Die haben das nie geschafft ihre Kinder zu diesen Veranstaltungen mit zu bringen und die dafür zu begeistern.
Ist ihre Arbeit als Archivar so im Bewusstsein der Einwohner verankert, dass die von alleine Archivmaterial nehmen und hier her bringen?
Ja, das geht ganz gut. Man braucht als Archivar sehr viel Geduld, wenn ich zum Beispiel weiß, da hat einer Archivmaterial und das rückt er nicht raus. Irgendwann stirbt der Mann und vielleicht kann man dann mit den Erben reden und vielleicht geben es die Erben von sich aus her. Da muss man eben Geduld haben. Die Zeit arbeitet für mich.