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EINER IDEE IST ES EGAL WER SIE HATEin Interview mit Johannes vom Fluss, Mitbegründer der Kunstsportgruppe Umgehungstechnik in Berlin

Wie oft trefft ihr euch? Wir treffen uns alle vierzehn Tage in unterschiedlicher Anzahl, etwa fünf bis zwanzig Leute.

Wie gestaltet ihr so ein Treffen? Wir treffen uns abends. Jeder bringt ein Schloss mit, das er nicht aufbekommt oder bei dem er stolz ist, dass er es aufgekriegt hat. Wir zeigen uns gegenseitig, wie ein Schloss geöffnet wurde, oder nehmen uns einen bestimmten Schlosstyp vor und analysieren ihn.

Sind alle Werkzeuge erlaubt? Alle Methoden, die ein Schloss zerstörungsfrei entsperren, sind erlaubt. Es gibt verschiedene Disziplinen. Bei der Handöffnung, der Königsdisziplin, benutzt man nur seine Sportgeräte, Maschinen und Apparate sind nicht erlaubt. Sportgeräte sind Sperrhaken, mit denen man ein Schloss auftasten kann. Beim "Freestyle" darf man zusätzlich zum Sperrwerkzeug alle Geräte verwenden, die zur Schlossöffnung entwickelt worden sind. Bei der Hangschlossöffnung werden Vorhängeschlösser geöffnet. Bei der Impressionstechnik wird aus einem Rohling ein Schlüssel nach dem Schloss gefeilt. Das steht auch im Internet unter www.lockpicking.org. Dort gibt es auch eine Liste der Wettbewerbe, ich sage lieber Meisterschaften.

Weshalb legst du so viel Wert auf das Wort Meisterschaft? Wettbewerb oder Wettkampf hat mit Konkurrenz beziehungsweise Krieg zu tun, eine Meisterschaft aber mit Fähigkeiten. Bei den Sportsfreunden der Sperrtechnik haben wir folgende Philosophie: Wer einmal Meister war, bleibt es sein Leben lang. Wir wollen so viele Meister wie möglich bei uns im Verein haben. Genau so ist es in der Kunstsportgruppe Umgehungstechnik. Bei uns gibt es auch noch einen Wanderpokal. Den bekommt man für Innovation.


Habt ihr ein aktives Vereinsleben?
Ja, aber wir sind kein Verein. Wir sind eine lose Gruppe. Wir sind nicht eingetragen und wollen auch gar nicht eingetragen sein. Ich habe die Vereinsmeierei satt. Ich versuche, eine andere Gruppenstruktur aufzubauen, die auf freier Entscheidung und ohne finanziellen Hintergrund funktioniert.

Wie erfahren Interessenten von euch? Über Mundpropaganda, Internet, Öffentlichkeitsarbeit in Rundfunk, Presse und Fernsehen. Ich halte auch Vorträge und mache Workshops z. B. an Kunsthochschulen, in Galerien und Theatern. Aber auch andere Mitglieder unserer Gruppe sind aktiv: Einer macht Lehrgänge für Schlossöffnungen, ein anderer öffnet im Sinne von Nachbarschaftshilfe ab und zu Türen für Freunde.

Was ist das Basisinteresse der Leute, die zu euch stoßen? Das Basisinteresse ist erst einmal zu lernen, wie man Schlösser öffnet. Letztendlich kommen viele, um herauszufinden, wie sie sich am besten absichern. Sie wollen wissen, welche Schlösser am sichersten sind. Unsere Botschaft ist aber: Sicherheit ist eine Illusion. Oder noch präziser ausgedrückt: Sicherheit ist ein Bedürfnis, es zu erfüllen ist eine Illusion.

Wie viele Leute, stoßen aus philosophischen Gründen zu euch? Ich schätze, dass 30 % ein noch tiefer gehendes Interesse haben. Wir bearbeiten schließlich nicht nur die Sicherheitstechnik, sondern auch die Kulturgeschichte der verschlossenen Tür und die Geschichte des Schlosses überhaupt. Durch das Prinzip des Zylinderschlosses sind Biologen auf das Wesen des genetischen Codes gekommen. Das Schlüssel-Schloss-Prinzip: Aminosäuren, die wie ein Schlüssel und ein Schloss zusammenpassen. In einem 2400 Jahre alten chinesischen Text, von Dshuang Tse, einem Begründer des Daoismus, gibt es eine Parabel über das Truheöffnen. Dshuang Tse beschreibt die Beziehung zwischen denen, die Truhen sichern und denen, die Truhen stehlen. Er sagt, dass wirklich großen Dieben eine Truhe nicht sicher genug mit dicken Seilen und festen Schlössern gesichert sein kann, denn sie nehmen einfach die ganze Truhe mit. Wenn die Truhe beim Abtransport aufginge, wäre das fatal. Nachdenkenswert ist in diesem Zusammenhang noch eine Aussage vom Meister Dshuang über das Stehlen an sich: Stiehl ein Sieb und du hängst als Dieb, stiehl ein Land und du wirst Fürst genannt. Auch in der Bibel steht etwas über Lockpicking, und zwar bei Johannes ab Vers 3.7.: "Und dem Engel der Gemeinde von Philadelphia schreibe: Das sagte der Heilige, der Wahrhaftige, der da hat den Schlüssel Davids, der auftut, und niemand schließt zu, der zuschließt, und niemand tut auf. Ich kenne deine Werke. Siehe und ich habe vor dir eine Tür aufgetan und niemand kann sie zuschließen; denn du hast eine kleine Kraft. Weil du mein Wort von der Geduld bewahrt hast, will auch ich dich bewahren vor der Stunde der Versuchung, die kommen wird." Da ist das ganze Spektrum von Lockpicking drin. Du machst Schlösser auf und wenn ein Schloss geöffnet ist, dann ist es offen. Keiner kann dir mehr sagen, dass das Schloss verschlossen ist. Das Geheimnis des Schlossöffnens ist das Beherrschen von kleinen Kräften und Distanzen. Dann ist da die Unterstellung, dass wer Schlösser aufmacht, gleichzeitig ein Dieb ist. Das hat eine Doppelseitigkeit. Leute der Altersgruppe ab vierzig reagieren oft richtig aggressiv, wenn ich öffentliche Performances mache, weil sie dadurch ein Tabu gebrochen sehen. Aber ein Tabu existiert nur so lange, wie man nicht darüber spricht. Uns wird unterstellt, wir wären Einbrecher. Und ich sage dann häufig: Was ich selber denk und tu, trau ich auch den andern zu. Es hängt also mit einer Glaubenskonstruktion zusammen. So, wie man an Bilder geglaubt hat oder an Geschriebenes, hat man auch an Schlösser geglaubt. Schlösser wurden ja nur deshalb ent-wickelt, um Seltenes vor fremdem Zugriff zu beschützen. Und wie kommt man an Seltenes? Wer hat überhaupt Interesse daran, seine Dinge einzuschließen? Und was ist, wenn sich jemand selbst einschließt? Ja, zum Beispiel, sich verschließen, sich aufschließen, das ist ein ziemlich weites Feld. Es hat auch eine psychologische Ebene, wo ich fast immer zu der Behauptung neige, dass Lockpicking auf je-den Fall auch eine therapeutische Wirkung hat. Was ich immer wieder feststelle ist: Wenn Leute längere Zeit beim Lockpicking zusammen sind und wissen, wie einfach es ist, Schlösser zu öffnen, dass dann ein ziemlich großes Vertrauen zueinander entsteht, weil man dem anderen nicht zutrauen kann oder will, dass er dieses Symbol Schloss nicht anerkennt. Ein Schloss ist letztendlich nicht mehr als eine psychologische Barriere. Für mich würde es genügen, wenn ein Aufkleber an der Tür wäre: "Hier nicht rein!" Wie ist der Anteil von Männern und Frauen bei euch? Ich würde sagen sieben zu drei.

Wie viele Leute sind in Berlin dabei? In meinem Kreis 25 bis 30 Personen. Bei den Sportsfreunden sind es auch noch einige. Insgesamt schätze ich, dass hier in Berlin etwa 200-300 Leute in Kontakt mit Lockpicking gekommen sind. Deutschlandweit sind wir knapp 900 Mitglieder. Ich habe festgestellt, dass zu uns auch Leute kommen, die sich sonst allein mit diesem Thema auseinandersetzen. Es gibt welche, die neben ihrem Bett eine Drehbank stehen haben. Die finden so Kontakt, finden eine kleine Familie. Sie treffen sich dann auch außerhalb der Gruppen und verbringen Zeit miteinander.

Dann überträgt es sich manchmal tatsächlich in den Raum dahinter? Für manche ja. Für mich ist das nicht so wichtig. Für mich geht es eher um Gruppenarbeit. Die Frage, wie man Gruppen organisiert, wie sich Gruppen bilden. Die Frage: Wie entsteht Gruppendynamik? Wodurch unterscheiden sich selbstorganisierte Gruppen, die sich über Bedürfnisse und Interessen finden, von anderen Gruppen? Ich hatte oft den Eindruck, dass die Kontinuität einer Gruppe häufig über das Materielle geschaffen wird. Wenn z. B. jemand in einen Verein geht, um Sport zu treiben, steht häufig dahinter, dass er 60 Euro im Jahr bezahlt und das natürlich ausnutzen möchte. Bei uns gibt es keinen Mitgliedsbeitrag. Ich habe aus unserer Gruppe diesen Teil der Kontinuität herausgenommen, um zu sehen, wie wirkliche Kontinuität über das Interesse entsteht. Ich denke viel über Alternativen nach: Wenn in einer Gesellschaft immer mehr soziale Dinge demontiert werden und immer mehr auf das eigentliche Eigentum des Menschen, die Lebenszeit, zugegriffen wird, wie kann ich dann Alternativen schaffen? Im Weltvergleich geht es den Deutschen noch gut. Aber ich sehe auch eine fortschreitende Verarmung. Gerade hier in Berlin. Ich denke da-rüber nach, wie ich Strukturen schaffen kann, die ohne Geld funktio-nieren, dazu gehört auch Nachbarschaftshilfe, wie zum Beispiel ein Schloss zu öffnen. Das geschieht natürlich nur nach den Regeln des Gesetzes. Man informiert sich zuerst, ob derjenige, dem man hilft, auch tatsächlich dort wohnt. Wenn er das nicht nachweisen kann, bleibt die Tür selbstverständlich zu.

Gibt es schon einen Lockpicking-Boom? Der steht noch bevor.

Wie glaubst du, wird es sich weiterentwickeln? Es wird auf jeden Fall bei besonders interessierten Menschen bleiben. Aber es hat auch die Potenz zu einer Trendgeschichte. Mein Wunsch ist es ja, dass es Picksets bei Aldi im Sonderangebot gibt. (lacht) Wir haben eine kleine Regel gefunden: Wo zwei Lockpicker sind, ist ein Gruppe. Ich stelle mir vor, dass sich eine Eigendynamik entwickelt. In den letzten beiden Jahren, seit ich das in Berlin tue, hat sich ohne mein Zutun eine Gruppe gebildet, die Sportsfreund Dirk leitet. Ich möchte uns auch nicht als Netzwerk verstehen, sondern vielleicht eher als Myzel. Das größte Lebewesen, das es auf der Erde gibt, ist ein Pilz. Er ist 80 qkm groß. Das älteste Lebewesen ist auch ein Pilz. Er hat mehrere Millionen Jahre in Stasis verbracht und wurde dann wieder zum Leben erweckt. Vielleicht sind wir mit den Pilzen näher verwandt als mit anderen Lebewesen.

Uns steht also eine Wiedererweckung bevor? Ich denke, dass wir in Deutschland derzeit eine Krise haben. Nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine emotionale. Sie geht mit Hoffnungslosigkeit und Lethargie einher. Den Leuten geht es rein wohn- und essenstechnisch gut. Es ist für alle genügend da. Die Menschen fühlen sich aber ungerecht behandelt. Sie sind zu klug geworden, sie durchschauen das Spiel. Aber noch sind sie ganz müde. Neulich habe ich einen hübschen Artikel gelesen über den Traum vom Aufwachen. In den Mythologien wird unsere Zeit auch so bezeichnet. Die Aborigines sagen, dass wir in einer Traumzeit leben, also in einem Schlafzustand. Doch wenn man nicht aufpasst, kann es ziemlich schnell zu heftigen Auseinandersetzungen kommen. Die ersten Anzeichen sind ja schon zu spüren.

Was spürst du? Vor zehn Jahren hat sich die Initiative für Menschen-rechte unter dem Dach der evangelischen Kirche entwickelt. Dort konnte ich die Zeit vor den Demonstrationen in Leipzig mitverfolgen. Damals gab es auch kein finanzielles oder wirtschaftliches Problem. Die Krise war emotional, weil Denken in der DDR praktisch verboten war. Aber zurück zur Lethargie. Ich habe gemerkt, dass man Leute durch das Interesse an einer Metapher wie dem Schlossöffnen aus der Isolation holen kann. Man kann ihnen einen Aktivitätsschub geben, sodass Eigendynamik entsteht. Also das Schlüsselprinzip als "Öffnen" im übertragenen Sinne? Ich benutze das nur als Sinnbild. Es ist ja auch eine Metapher für "eine Lösung finden" oder "ich habe keinen Schlüssel für das Problem". Etwas zu umgehen, also letztendlich das Umgehen des Schlüssels, den ich nicht benutze, führt zu Denkprozessen und Erkenntnissen. Die wiederum helfen mir, andere Dinge umgehen zu lernen, was dann zu einem persönlichen Fortschritt führt. Wir haben auch eine Enzyklopädie der Umgehungstechnik in Arbeit. Sie soll dazu dienen, den Menschen klarzumachen, wie sicher oder unsicher sie sich fühlen. In unserer Gruppe haben wir herausgefunden, dass Freiheit mit Sicherheit endet. Je öfter ich loslasse, desto schneller komme ich zum Ziel. Ich halte es für wichtiger, den Begriff der Imagination als Thema aufzugreifen, als beispielsweise ein Bild zu malen. Das ist es auch, was im religiösen Bilderverbot steckt, denn sobald du dir ein Bild machst, hast du eine eigene Meinung über etwas. Und da ist die Metapher vom Schlossöffnen wieder eine wunderbare Geschichte: Wenn ich es schaffe, den Menschen das Bild des Inneren eines Schlosses zu vermitteln, werden sie mit allen verschlossenen Dingen anders umgehen. So erarbeiten wir Strategien zur Problemlösung, lernen querzudenken und befreien uns von festgefahrenen Denkstrukturen. Und das alles durch Lockpicking. Unser Motto beim Schlossöffnen lautet: Offen ist gut, aber schneller offen ist besser!
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