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GESELLSCHAFTSGESTALTUNG IN ÜBERFLÜSSIGEN STÄDTENgEin Gespräch mit dem Kritiker und Publizisten Wolfgang Kil

Von den OrganisatorInnen des Projektes "superumbau" wurde finger eingeladen eine Dokumentation des Wettbewerbs "evolutionäre zellen" in Hoyerswerda vorzustellen. Zur eigenen Orientierung, aber auch als Bezugspunkt für am Wettbewerb Interessierte vor Ort, sprachen wir im Vorfeld der Präsentation mit Wolfgang Kil, der mit der Situation in Hoyerswerda vertraut ist.

Herr Kil, was ist in der gegenwärtigen Situation in Hoyerswerda für Sie wichtig? Da ist zunächst die kulturhistorische Bedeutung dieser Stadt, die man sich näher ansehen sollte. Wenn man die Baugeschichte der DDR einmal an einem einzigen Ort schreiben wollte, dann ginge das wohl nur in Hoyerswerda. Die originäre Leistung der DDR-Baugeschichte ist nämlich der industrielle Städtebau, und der hat mit Hoyerswerda angefangen, hier steht der erste in Serie produzierte Großplattenbau. Im Gegensatz zu Eisenhüttenstadt war Hoyerswerda vom ersten Augenblick an industriell gedacht, und es waren auch interessante Leute dabei, z. B. Richard Paulick, der immerhin zu Bauhaus-Zeiten Büroleiter von Walter Gropius war. Man könnte die Stadt daher wie eine einmalige Laborsituation betrachten oder als Ganzes, wie ein riesengroßes Denkmal. Industrielle Wohnungsproduktion, Diktat der Kranbahn, Wohnkomplex - bestimmte Dinge kann man nur erklären, wenn man sie vor sich sieht. Aus den Büchern heraus ist das kaum noch rekonstruierbar. Unter den ganzen Neubaustädten ist Hoyerswerda nun auch die einzige, die eine eigene Kulturgeschichte entwickelt hat. Es gibt einen inzwischen weltberühmten Roman über die Stadt, es gibt Filme, die Lieder von Gundermann. Es gab sogar eine internationale Verknüpfung in der Kunst - die Bildhauerpleinairs. Und dann gab es diesen Literaturclub, der es eben hingekriegt hat, dass alle wichtigen deutschsprachigen Autoren, nicht nur die aus der DDR, in Hoyerswerda öffentlich gelesen haben. Dementsprechend hatten sie hier auch eine eigene, nicht von außen hergeholte Elite. Und das war immer die Neustadt-Elite. Alle Initiativen kamen immer aus der Neustadt, zu DDR-Zeiten war die Altstadt das Anhängsel. Nach der Wende hat sich das genau umgedreht. Jetzt galt alle Aufmerksamkeit nur noch der Altstadt. Die kriegte das Geld für die Renovierung, die Altstadt hatte das Rathaus, und alle, die jetzt in der Stadt das Sagen haben, sind Altstädter. Die verachten die Neustadt zutiefst. So ist, nach meinem Eindruck, die aktuelle Konstellation. Die Frage ist doch, wer hat das Zepter in der Hand. Das hat gegenwärtig die Altstadt, und die lässt die Neustadt eben einfach über die Klinge springen. So was passiert immer zu einem großen Teil aufgrund persönlicher Animositäten. Man fragt sich aber, warum drängen die Neustädter nicht ins Rathaus, warum setzen Sie sich nicht besser in Szene? Das könnten sie machen, sie sind schließlich in der Überzahl. In der Altstadt wohnen etwa 7.000 Leute und in der Neustadt immer noch 35.000! Die könnten das Ganze umdrehen. Aber das kriegen sie irgendwie nicht hin. Das ist leider tragisch.

Wie entwickelt sich die Stadt heute? Man baut - beschönigend gesagt - zurück, ein Problem, das eher früher als später auch nach dem Westen kommt. Es ist absehbar, dass auch westdeutsche Städte schrumpfen, jetzt schon Pirmasens oder Bremerhafen, Salzgitter, die ganze Nordhälfte des ehemaligen Zonenrandgebietes, einschließlich Braunschweig, um nur einige zu nennen. In diese Gebiete wurde früher viel Geld gepumpt, sogenannte "Strukturhilfemaßnahmen", genau so, wie das die DDR mit ihren Neugründungen in Schwedt, Eisenhüttenstadt oder Guben gemacht hat. Also in strukturschwache Gebiete Industrie hineinsetzen, damit sich dort irgendetwas entwickelt. Dafür hat man diese Städte gebaut. Wenn die dort angesiedelte Industrie dann kollabiert, stellt sich bei den Neugründungen automatisch die Daseinsfrage. Das war im Zonenrandgebiet eine ähnlich unnatürliche Fördersituation, und in dem Moment, wo es dort keinen Fördergrund mehr gibt, weil die Grenze weg ist, ist dann auch dort einfach die Luft raus. Das ist der Teil an dem Prozess, den ich Normalisierung nennen würde. Aber es ist auch ein gewisser resignativer Zug dabei, wenn man feststellen muss, dass 50 bis 70 Jahre offensichtlich nicht ausreichen, einen solchen Prozess, also die industrielle Grundlage, zu verstetigen. Wenn man die Krücken wegnimmt, fällt das Gebiet quasi wieder in den vorherigen Status zurück, und es ist nicht erfreulich, zu beobachten, wie diese Gebiete dann wieder zur Einsamkeit verurteilt sind.

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Der Prozess, der da jetzt im Gange ist - Abwanderung aus dem Osten, sinkende Bevölkerungszahlen in ganz Deutschland usw. - wird sich voraussichtlich schleichend potenzieren, sodass wir die Problematik schrumpfender Städte, bis hin zu den Schwierigkeiten die Infrastruktur aufrecht zu erhalten, auf den gesamtdeutschen Rahmen hin anschauen müssen. Wie kann man damit umgehen?
Dieser Prozess, der Abschied vom Wachstum, erschüttert die Grundfesten unserer Kultur. Bei all den Schwierigkeiten, uns das vorzustellen, merken wir erst, wie tief diese Vorstellung eigentlich in uns drin steckt, durch wie viele Facetten das durch muss, um diesen Paradigmenwechsel überhaupt erstmal denken zu können. Deswegen bin ich da sehr zurückhaltend, ich mag diesen Prozess eigentlich nicht beschreiben, jedenfalls nicht in der Breite für ganz Deutschland. Ich kann es mir gerade mal ein paar Schritte weit für Hoyerswerda ausmalen. Wenn dort die Einwohnerzahl immer weiter fällt, dann fliegt irgendwann der kreisfreie Status der Stadt auf, damit wäre sie dann eine x-beliebige Stadt im Kreis Kamenz. Die Leute denken jetzt noch gar nicht daran, was das bedeutet, nicht nur finanziell. Alle laufenden Kosten z. B. die die Kommune aufbringen muss, sind an die Einwohnerzahl gekoppelt. Je kleiner die Einwohnerzahl, desto weniger Geld gibt es. Eine Stadt für Wenigere zu betreiben, ist teuer. In Schwedt z. B. ist es mittlerweile so weit, dass die Infrastruktur nicht mehr ausgelastet wird. Die Stadt beginnt zu stinken, weil der Durchfluss der Kanalisation nicht ausreicht. Die Scheiße bleibt einfach stehen, und es stinkt aus allen Gullis. Um die Stadt bewohnbar zu halten, muss mit teurem Trink- oder Regenwasser die Kanalisation regelmäßig durchgespült werden. Das ist ein Kostenfaktor, den sie obendrein im Land Brandenburg durch ihre enorme Trinkwasserverteuerung ins Unermessliche getrieben haben. Auch daher gibt es Überlegungen, ganze Landschaften, z. B. Teile von Ostvorpommern, "abzusiedeln". Darüber wird schon deshalb nicht gern öffentlich geredet, weil dann dort auch noch die letzten Immobilienpreise zusammenbrechen. Der normale Bürger regelt sein Leben über das Geld, aber wer etwas mehr will, der muss schon mal Land haben, damit man das beleihen kann. Wenn man kein Land hat und das Haus nichts mehr wert ist, dann bekommt man auch keinen Kredit. Dann ist man kein Wirtschaftsteilnehmer mehr. Und wenn jetzt das vorhandene Land auch noch entwertet wird, dann ist für die Wirtschaft überhaupt keine Grundlage mehr da. Diese Prozesse, die Verheerungen, die da entstehen, können sich so dynamisieren, dass kein Regierungshandeln das mehr rechtzeitig auffangen kann. Insofern ist es für Hoyerswerda jetzt wichtig, immer mehr Diskussionen über die aktuelle Situation loszutreten. In solchen Zusammenhängen bin ich zwar eigentlich gegen Kunstprojekte - weil das eine soziale Angelegenheit ist -, aber gerade weil die Sache so schwer anzupacken ist, sage ich: Meinetwegen Kunst ! Damit überhaupt Öffentlichkeit entsteht. Damit Aufmerksamkeit kommt, von innen oder außen, sei es Presse, seien es Reporter, die zu irgendeiner Veranstaltung kommen. Und es ist gut, dafür jetzt den "Rückbau" als Zentralthema zu entwickeln, damit das Leiden derer, die das jetzt aushalten müssen, wenigstens noch etwas Sinn macht. Damit andere, denen das vielleicht auch bald blüht, sich jetzt schon mal Gedanken machen können. Ansonsten wäre das alles nur wie eine Krankheit, die zum Tode führt. Man muss einfach darüber nachdenken, ob man da nur noch mit Rauschmitteln oder eben doch noch mit irgendeiner Therapie helfen kann.

Und Kunstprojekte sind dabei eine solche Hilfsmaßnahme? Da denke ich gar nicht so sehr an Kunst im traditionellen Sinn. Eher würde ich von Rock-Konzerten sprechen oder über den "Musikanten-Stadl", der ruhig regelmäßig hierher in die Stadthalle geholt werden sollte. Auch diese Fans haben ein Recht auf Abendunterhaltung, zumal wenn sie bald in der Überzahl sind. Aber gibt es jemanden, der sich darum kümmert? Solange die "Avantgarde", die sich bereitwillig dem Problem stellt, lediglich an ihren eigenen Maßstäben festhält, bleiben die Alten wieder draußen und alleine übrig. Die "Avantgardisten" denken nur in ihren elitären Kategorien, und da kommen Dinge wie der "Musikanten-Stadl" nicht vor.

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Gibt es in Hoyerswerda selbst Initiativen, die aktiv werden, eigene Modelle entwerfen und die selbst versuchen, Öffentlichkeit herzustellen für ihre Situation? So viel ich weiß, gibt es einmal im Jahr den "Markt der Möglichkeiten", bei dem weit über hundert Initiativen, von den Heimatvertriebenen bis hin zur Schwulen-Initiative, eben wirklich jede erdenkliche Gruppierung der Stadt, sich in der Stadthalle öffentlich vorstellen. Aber eine unverzichtbare Rolle spielt nach meiner Wahrnehmung vor allem die Kulturfabrik. Ich selber habe dort mal einen Vortrag gehalten und vorher lange darüber nachgedacht, ob man das wirklich als "Zugereister" so ungeschönt sagen darf: "Diese Stadt ist überflüssig." Aber es war ein toller Abend. Einige Leute sind zwar ziemlich deprimiert nach Hause geschlichen, aber viele haben auch gesagt, wie wichtig es sei, dass das endlich mal jemand so brutal ausgesprochen hat. Nun könne man sich darüber endlich offen unterhalten. Solange man selber immer nur nebulöse Vermutungen oder Ängste mit sich herumträgt, traut sich da niemand so richtig ran. Seit den letzten zwei Jahren ist in Hoyerswerda ein klareres Bewusstsein um die Situation entstanden. Es machen sich Kräfte und Profile sichtbar. Problematisch ist nur, dass die realen wirtschaftlichen Prozesse, das Leerlaufen der Stadt, schneller vor sich gehen, als man die sozialen Prozesse organisieren kann. Das bedeutet: Der Druck wird immer größer. Und andererseits kann es auch schiefgehen, und wenn das passiert, dann, so ist zu befürchten, übernehmen die Rechten das Ruder. Die wissen auch, was los ist, sie nehmen dieselben Probleme wahr wie alle. Und sie sind vorbereitet. Deren Strukturen sind intakter als unsereiner sich das auszumalen vermag. Hoyerswerda ist ein Knoten in ihrem Netzwerk. Die haben viel dazugelernt, ihr Vokabular verändert und reden eben nicht mehr in rassistischen Parolen, sondern demonstrieren für Arbeitsplätze und soziale Gleichheit. An der Stelle könnte dann die breite Widerstandsfront einbrechen. Gegen solche geschickte Demagogie kann sich eine langzeitarbeitslose Gesellschaft, die sich vom Rest der Welt im Stich gelassen fühlt, nur noch schwer wehren. Es gibt aber auch extreme Einzelkämpfer und skurrile Projekte in der Stadt. Meistens stellt man dann fest, dass die auch irgendwie mit der Kulturfabrik in Verbindung stehen. Diese Kulturfabrik ist schon ein richtiges Biotop, das an vielen Stellen ausfasert und bei den ver schiedensten Gelegenheiten, manchmal indirekt, zum Vorschein kommt. Diesen Zusammenhalt finde ich enorm wichtig. Noch ist er da, so ein "emanzipativer Querschnitt", links, selbstbestimmt, autonom, sozial, mit fürsorglichen Anteilen, mit einem starken Engagement für aktuelle Kultur. Darüber hinaus gibt es immer noch eine erstaunliche "Kultur der Freiwilligkeit" in Hoyerswerda. Es ist kaum noch Geld da, ohne die große Bereitschaft zur Selbstausbeutung würde also gar nichts mehr laufen. Wobei ich nicht weiss, wie lange man das durchhält. Das ist schon eine merkwürdige Stadt, die mich fasziniert und die ich spannend finde. Schade, dass sie auf Dauer so gar keine Chance hat. Doch es hilft alles nichts, man kann die Stadt nicht allein ihrer tapferen oder skurrilen Leute wegen halten.

Aber wie sieht dann der scheinbar unabwendbare Rückbau aus? Werden Städte wie Hoyerswerda jetzt perforiert, sodass man dann immer größer werdende unbesiedelte Flecken in den Städten hat, oder versucht man im Grunde die Substanz zu verdichten, in dem man das, was man nicht mehr braucht, systematisch abwickelt? Das müssen die Planer jetzt herausfinden. Da gibt es Positionskämpfe, da wird auch von Ort zu Ort neu entschieden. Auch darin ist Hoyerswerda ein Testgelände. Hier hat man die Variante "auslichten" gewählt: Mal hier, mal dort was rausnehmen. Die andere Variante wäre, ganze Viertel vom Rand her abzubrechen. Eine dritte wäre, nur obere Geschosse runterzunehmen, aber das ist nach aller Erfahrung zu teuer. Sie setzen hier auf das Prinzip Gartenstadt: Die beliebteste Wohngegend in Hoyerswerda ist der WK1 (erster Wohnkomplex). Das ist das älteste und deshalb am dichtesten begrünte Viertel, da hat man sehr schön geschnittene Wohnungsgrundrisse, alles saniert, die Mieten sind moderat geblieben. Die Häuser sind für die Leute annehmbar, und die Umgebung gefällt. Sie leben gerne im Grünen. Es gibt also eine Variante, die mit den Bewohnern durchaus abstimmbar ist, sodass sie akzeptiert wird. Leider geht das nicht überall. Es kostet übrigens nicht nur Geld, die Häuser wegzumachen, sondern anschließend muss mit dem Gelände irgendetwas geschehen. Wenn es innerstädtische Flächen sind, müssen sie kostenintensiv gepflegt werden. Würde der Rückbau mehr am Rande geschehen, könnte man es auch ein bisschen verwildern lassen, da fiele es nicht so auf. Nun hatten die allerersten Abbrüche noch demonstrativen Charakter, da wurde anschließend sofort Rasen gesät, und es entstand eine wunderbare Grünfläche. Wenn jetzt etwas abgerissen wird, schaffen sie es nicht mal mehr, Gras zu säen, da bleibt erstmal einfach eine weiße Sandfläche übrig. Man muss aber auch im Auge behalten, dass es andere Länder gibt, die haben größere Probleme als wir, da wird das viel mehr Opfer fordern als bei uns. In Russland, zum Beispiel. Aber wir haben hier jetzt vielleicht letztmalig die Chance, in einem relativ reichen Land, in einer einigermaßen überschaubaren Konstellation in extremer Praxis zu klären, was jeweils passiert, wenn man sich so oder so entscheidet. Dafür wäre Hoyerswerda das ideale Labor. Wobei sich zur Zeit leider jeder, der hier etwas Experimentelles wagen will, gegen die Altstadt, gegen das Rathaus durchsetzen muss. Gerade was die Härte und Schroffheit, aber auch die Aufmerksamkeit und den kulturellen Hintergrund angeht, ist Hoyerswerda eigentlich ideal. Man sollte diese Stadt europaweit thematisieren. Ja, das sollte man unbedingt tun.

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Wolfgang Kil ist freiberuflicher Kritiker, Publizist und Autor in Berlin. Nach dem Studium der Architektur in Weimar (1967-72) war er von 1978 bis 1982 Redakteur einer Fachzeitschrift und von 1992 bis 1994 Redakteur bei der BAUWELT. 2004 erschien von Wolfgang Kil im Verlag Müller+Busmann, Wuppertal, die Streitschrift "Luxus der Leere - Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt".

 

 

 

 

 

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