DIE ALM VON ARCEGNO

... und die utopische Kolonie auf dem Monte Verita von Florian Haas

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Eigentlich war alles nur ein Gerücht. Im autonomen Jugendzentrum hörten wir von einem Treffen in Ascona am Lago Maggiore. Wer sich da genau traf war im Räucherstäbchendunst nicht ganz auszumachen. Nur der Zeitpunkt war klar - bei Vollmond im Juni.

Woher Marta die Information hatte, dass einige Leute zu Fuß über die Alpen nach Ascona aufgebrochen sein, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls nahm Marta »das zu Fuß« mit einigen Freunden sehr wörtlich. Die Gruppe brach Mitte Mai ohne Schuhe über den Gotthart auf. Was bei uns zurückblieb war Bewunderung und ein Hauch Pachouli.

Nach einigen Tagen des Zögerns folgte auch ich mit meinem Freund Patrick dem Gerücht nach Süden.

Ich erinnere mich nur noch schwach an den Wanderweg neben der Gotthartautobahn. Eingeklemmt zwischen Abgasen, Bahnlinie und den Wasserrohren der Kraftwerke führte die Wanderung durch ein enges, schattiges Tal, das so gar nicht unseren Vorstellungen entsprach. Die Versuchung der Straße war groß und so streckten wir unsere Daumen dem Verkehr entgegen. Als endlich nach Stunden, der wüstesten Verwünschungen auf die rausgefressenen Spießer in ihren Mercedesen ein Wagen auf dem Standstreifen hielt, rannten wir wie die Hasen der klapprigen Ente entgegen. Nachdem wir umständlich unsere sperrigen Rucksäcke auf den Knien platziert hatten, beschlossen wir die Ente nicht mehr so schnell zu verlassen. Schon gar nicht als uns der Fahrer ankündigte, er würde bis zum Lago runterfahren.

Begleitet von den schmachtenden Rufen nach Angie, die aus dem Kassettenrekorder schluchzten, ging es die Nationalstraße hinunter. Unsere Fahrt wurde durch ständige Staus und Staubwolken unterbrochen, welche von den Baustellen der zukünftigen Autobahn herrührten. Richtig benebelt wurden wir aber erst durch das freundliche Angebot unseres Fahrers uns doch einen Joint zu bauen. Das hierfür nötige Baumaterial klemmte hinter seiner Sonnenblende, von wo er ein gigantisches Piece hervorkramte.

In gehobener Stimmung kamen wir am Spätnachmittag in Ascona an. Von Marta und ihren Freunden war nichts zu sehen. Statt dessen sonnten sich in der Abendsonne weißbeschuhte Pensionisten auf den Bänken der Strandpromenade. Enttäuscht von dem Ort unserer Sehnsucht stolperten wir durch die engen Boutiquenpassagen der südlichen Stadt - immer auf der Suche nach dem Gerücht. Bedauerlicherweise rammten wir dabei immer wieder Touristen, die in den engen Gassen stehen blieben um ein Foto zu machen. Wahrscheinlich waren diese Kollisionen eher auf die Nachwirkung des Joints zurückzuführen, als auf die aus den Bussen quellenden Touristenmassen.

Endlich trafen wir vor einem MikrosSupermarkt auf »unsere Leute«, die damit beschäftigt waren Unmengen von Gemüse, Pasta und Reispakete in ihre Autos zu stopften. Schüchtern fragten wir ob sie etwas von einem Treffen hier wüssten. »Klar sie kämen von dort und würden gleich wieder hoch zur Alm fahren, Ð jedenfalls soweit die Straße befahrbar sei. Wir könnten gerne mitfahren Ð es würde aber eng werden".

Mit pelzigen Beinen krochen wir 800 Meter über Ascona wieder aus dem Auto. Der weite Blick auf den Lago Maggiore existiert nur noch nebulös in meiner Erinnerung. Was Patrick und mich endgültig ernüchterte war der kommende Anstieg auf die Alm. Zusätzlich zu unseren Rucksäcken bekam jeder noch einen Sack Reis in die Hand gedrückt.

Im letzten Abendlicht erreichte unsere Gruppe das Camp. Vor den auf der Wiese verstreuten Zelten huschten Taschenlampen hin und her. In der Mitte des Platz loderte ein Lagerfeuer um das sich in Decken gehüllte Gestalten versammelt hatten. Freudig wurde der Essenstransport begrüßt. Eine Stunde später gab es Abendessen. Das vegetarische Reisgericht wurde aus einem großen Topf über dem Lagerfeuer an alle verteilt. Für Kost und Logis steckte jeder soviel Geld wie er entbehren konnte in eine Blechbüchse. Das war Ehrensache.

Einige kamen gerade aus Indien zurück. Die Indienfahrer trugen rot verwaschene Klamotten und um ihren Hals baumelte das Bild eines glotzäugigen bärtigen Herrn. Das war der Bagwaan wie ich erfuhr.

Die Sorgen aller aber galten einem Teilnehmer, der im Feuerschein etwas abgehackt über die Wiese storchte. »Der sei auf dem Tripp hängen geblieben«, raunte man, »und sei zur Zeit besonders anstrengend«. Was aber einen anderen Typ nicht davon abhielt ums Feuer zu schleichen und jedem ins Ohr zu zischen: »Leckere Tripps«. Die Leute schienen ihn nicht sehr zu mögen aber man war tolerant.

Als wir am nächsten Morgen aus dem Zelt blinzelten sahen wir im jungfräulichen Licht unsere Nachbarn völlig nackt über den Platz laufen. Das blieb auch so den ganzen Tag. Die Frage ob wir in dieser Gemeinschaft auch verpflichtet wären die Hüllen fallen zu lassen beschäftigte uns den ganzen Morgen. Gegen Mittag trauten wir uns endlich aus unserem Zelt und zwar bekleidet. Wir gehörten damit zu der kleinen Minderheit der Textilträger, an der keiner Anstoß zu nehmen schien. Die Freizügigkeit auf dem Platz führte zum Besuch zweier uniformierter Polizisten. Sie standen zunächst völlig sprachlos vor dem Treiben. Als sie ihre Fassung wieder gewonnen hatten, befahlen sie in gebrochenem Schweizerdeutsch, dass diese Schweinerei sofort ein Ende haben müsse, sonst würden sie morgen mit dem Helikopter kommen. Die um die Polizei versammelte Nudistengruppe brach in schallendes Lachen aus, was die zwei Beamten offensichtlich sehr demütigte. Man teilte den Polizisten mit, dass die Alm von einem Bauern aus dem Ort gemietet worden sei, der die Staatsmacht offensichtlich auch nicht sehr schätzte und dass sie sich verpissen sollten. Was sie dann auch taten.

Der Helikopter jedenfalls landete nie. Das Lagerleben wurde durch verschiedene Angebote und Aktivitäten angereichert. Eine Art von Pilgerwanderung führte eine kleine Gruppe von Enthusiasten zu den Grässerhöhlen. Wie unser Führer vorgab hatte er Grässer noch persönlich kennen gelernt. Dieser Mann zog sich zeitweise in diese Höhlen zum meditieren zurück, was wir dann auch zwei Stunden lang taten. Grässer schien so etwas wie ein Vorbild für unser Camp zu sein. Erst Jahre später stieß ich im Zeitungsfeuilleton auf den Artikel über eine utopische Kolonie auf dem Monte Verita bei Ascona. Die Kolonie wurde am Anfang des letzten Jahrhunderts von zivilisationsmüden Aussteigern gegründet. Jener Grässer dessen Unterkunft wir besuchten war einer der Gründungsmitglieder des Monte Verita. Inzwischen wurde auf dem Berg der Wahrheit ein Museum eingerichtet, das über die Kulturgeschichte der einstigen Reformkolonie informiert und all die illustren Persönlichkeiten des Geisteslebens aufzählt, die hier weilten. Keimzelle der Kolonie war eine Naturheilanstalt mit einem Licht und Luft Bad.

Das Freiluftbad der Heilanstalt

Ich stelle mir Hermann Hesse vor, der in der Anstalt wegen seiner Alkoholprobleme weilte, wie er nackt durch das Licht- und Luftbad wandelte und dabei auf den verschämten Rudolf Steiner traf. Ob sie über die magnetische Anomalie des Berges diskutierten oder die reine Fruchtnahrung welchen den Herren hier verabreicht wurde, bleibt Spekulation. Jedenfalls haben wir, die ungeliebten Enkel des Monte Verita, die sich vor 20 Jahren auf der Alm von Arcegno versammelten, leider noch keinen Einzug in mein Lieblingsmuseum gehalten. Lange währte die Geschichte der Treffen auch nicht, denn nach wenigen Malen ebbte der Enthusiasmus ab. Ob es an dem zunehmenden öffentlichen Druck der Gemeinde Ascona lag, die Angst um die Sicherheit ihrer zahlungskräftigen Rentner hatte oder daran, dass zu viele nach Poona abwanderten, kann ich nicht sagen. Jedenfalls nahm die Zahl der Holzkettenträger mit dem Glubschäugigen in den kommenden Jahren rapide zu. Die Ankunft von Marta und ihren Freunden in Ascona haben wir verpasst. Die Barfuss-überquerung der Alpen hatte aber tatsächlich stattgefunden wie ich später erfuhr, sozusagen in der Nachfolge der Begründer des Monte Verita, welche die gleiche Strecke vor 80 Jahren schon einmal ohne Schuhe zurückgelegt hatten.

THE ALPINE PASTURES OF ARCEGNO

... and the utopian colony on Monte Verita

What begins as a walk through the alps to Ascona, develops into a strenuous hitchhiking tour over the Gotthart pass, eventuelly arriving (rather stoned) at the destination Ð Monte Verità . A group of young people meet up at Monte Verità on a piece of land, rented from a local landowner, just above Lake Maggiore Ð to play music, eat together, smoke joints and to party, mostly without any clothing. The reason for the celebration at this particular place, is to remember the founding day and the founder members who set up an utopian colony, in this area, 80 years ago. The founders initial idea was to set up a natural sanatorium, a sort of climatic spa, where visitors could enjoy the fresh air, clear water, the beauty of nature Ð and relax. There came not only dropouts, tired of the pressure of modern society, but also an illustrious circle of poets and philosophers, such as Hermann Hesse, Rudolph Steiner, and many others. They came to rejuvenate their energy levels, to develop new ideas and for some it enabled them to try and combat their drug problems. The colony no longer exists but the spirit of Monte Verità lives on. On the site is an extremely interesting museum, explainig the history of the place, the utopian colony and carefully documents the intellectual personage that spent time up here.